AI-Optimierung im Programmatic Advertising

AI-Optimierung im Programmatic Advertising: Zwischen Rumsfeld-Matrix und Retail-Media-Hype

Künstliche Intelligenz wird im Programmatic Advertising längst nicht mehr als Zukunftsversprechen gehandelt – sie ist bereits gelebte Realität. Bid-Optimierung, Frequency-Steuerung, Creatives Testing, Predictive Modelling: Vieles davon übernimmt AI schon heute schneller, präziser und konsistenter, als es menschliche Teams je könnten.
Doch die spannendsten Entwicklungen beginnen erst dort, wo wir aufhören, “manuelle Prozesse zu automatisieren”.

Und genau hier kommen zwei Gedanken ins Spiel, die die Branche dringend vor dem Hintergrund der sich entwickelnden AI Technologien beleuchten sollte: die Rumsfeld-Matrix und der Retail-Media-Hype – und was beide mit dem eigentlichen Elefanten im Raum zu tun haben: schwindenden Impressions und neuen KI-Agent kompatiblen Werbeformen.

Die klassischen Fälle: KI macht, was wir machen – nur schneller

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Wir können KI all die Aufgaben geben, die wir traditionell manuell erledigt haben.

Typische Beispiele sind Bid-Floor-Optimierung, Forecasting und saisonale Mustererkennung, Reporting-Automatisierung und Multi-Variable-Tests, ohne dass die Ad-Ops-Abteilung weinend unterm Tisch liegt.

Google Ad Manager, SSPs und Monetarisierung Netzwerke liefern die Rohdaten – KI kann sie strukturieren, bewerten und in handfeste Strategien verwandeln.

Das ist effizient, hilfreich – aber im Grunde nur „Known Knowns“ und „Known Unknowns“. Wir sagen der KI, was sie tun soll. Sie tut es. Gut, aber erwartbar.

„AI als Co-Worker hebt Potenziale, die früher einfach liegen geblieben sind. In meiner Zeit als VP Operations & Revenue bei video intelligence [2021 von Outbrain akquiriert, Anm. d. Verf.]  haben wir mehrere SSPs jongliert und viele sinnvolle Optimierungen gar nicht erst ausprobiert, weil uns die Kapazitäten gefehlt haben. Wenn AI heute die schwere Arbeit in der Programmatic-Optimierung übernimmt, verschwindet genau diese Ressourcenbegrenzung – und Publisher können neue Umsatzchancen erschliessen.“Wicky Sri, Peak Agent AI Ltd.

Unbekannte Unbekannte: Was wir noch nicht einmal ahnen

Und jetzt wird’s interessant: Der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld prägte einst das Konzept der „unknown unknowns“: Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.

Übertragen auf Programmatic Advertising bedeutet das: Wir nutzen AI gerade hauptsächlich dafür, bestehende Prozesse zu optimieren, die wir ohnehin kennen.
Aber wir fragen uns viel zu selten, welche Möglichkeiten existieren, die wir bisher nicht einmal gedacht haben. Wenn eine Maschine heute in Millisekunden aus Milliarden Signalen Muster extrahiert, kann sie nicht nur das tun, was wir bisher getan haben – nur schneller. Sie kann uns auf Dinge stossen, die wir nie erkannt hätten.

Beispiele gefällig? Zielgruppencluster, die wir nie definiert haben. Kontextsignale, die kein Mensch je kategorisiert hätte. Werbeumfelder, die logisch keinen Sinn ergeben – aber empirisch signifikante Conversions liefern. Cross-Channel-Korrelationen, die erst durch multimodale Modelle sichtbar werden.

Die wahre AI-Revolution kommt also nicht durch Automatisierung, sondern durch Exploration – durch das Sichtbarmachen von Räumen, die wir bislang nicht kannten. Programmatic Advertising steht damit am Übergang von “Effizienzsteigerung” zu “Erkenntnisgewinn”.

„Die Revolution im Programmatic entsteht nicht durch automatisierte Prozesse, sondern durch das Entdecken von Möglichkeiten, von denen wir nicht einmal wussten, dass sie existieren.“Arne Pokrandt, Smartbroker Holding AG

Retail Media: Das goldene Kalb oder die nächste Illusion?

Wer heute Marketing-News öffnet, bekommt schnell den Eindruck: Retail Media ist die neue Allzwecklösung, Der heilige Gral der Werbung. Das goldene Kalb, um das die ganze Branche tanzt.

Es stimmt: Retailer haben wertvolle First-Party-Daten, einen klaren Bezug zur Kaufentscheidung und immer mehr Inventar. Aber während alle auf Retail Media starren, übersehen viele den Elefanten im Raum: Die Impressions insgesamt sinken – und zwar branchenweit. Warum? Weil AI immer mehr Nutzermuster antizipiert, Inhalte personalisiert, Interfaces minimiert und Entscheidungen verkürzt.
User brauchen weniger Screens, weniger Seitenaufrufe und weniger Suchschritte, um zum Ziel zu kommen. Weniger Touchpoints = weniger Impressions = weniger klassische Werbeflächen.

Ist AI schuld? Oder eröffnet AI neue Werbeformen?

Die reflexhafte Antwort lautet oft: AI reduziert Reichweiten – und das schadet Programmatic. Aber das greift zu kurz. Ja, AI reduziert einige Formen von Impressions. Aber gleichzeitig entstehen völlig neue Werbeoberflächen, bzw. neue Inventory-Klassen durch AI: Conversational Ads in Chatbots und Such-Agenten, Dynamic Product Moments in multimodalen Assistenten oder Task-Based Advertising, bei dem Werbung in Aufgabenfluss integriert wird In-AI-Recommendation Placements; angelehnt an Retail-Media, aber viel breiter.

Und das Spannendste ist: Diese Werbeformen sind nicht linear skalierbar. Denn sie entstehen aus Situationen, die bisher gar keine Werbeplätze hatten – wir wussten nicht einmal, dass es sie gibt. Rumsfeld lässt grüssen.

„AI findet nicht ausschliesslich auf den großen LLM-Plattformen statt: Publisher müssen eigene AI Modelle kultivieren und zwar dort, wo sich ihre Inhalte befinden und ihre Nutzer sich aufhalten. Sobald ein Publisher nicht mehr nur Artikel ausliefert, sondern aktiv Dialoge führt, entstehen völlig neue Nutzungsmomente, die den Usern wieder einen Grund geben, sich auf den Seiten des Publishers aufzuhalten. In diesen Momenten fragen Nutzer aktiv nach Hilfe, Orientierung oder Produktempfehlungen und genau dort wirkt Werbung plötzlich selbstverständlich und sinnvoll. Gleichzeitig gewinnen Publisher Daten, die ihnen erlauben, Inhalte und Angebote live an die echten Fragen ihrer Nutzer anzupassen. Das ist der nächste Evolutionsschritt jenseits klassischer Impressions.“ – Alen Nazarian, Paistry Technologies GmbH

Fazit: Der grösste Fehler wäre, AI nur als Optimierungs-Tool zu sehen

Wer AI lediglich dazu nutzt, die Vergangenheit besser zu managen, verliert die Zukunft. Programmatic Advertising steht an der Schwelle zweier Entwicklungen: 1. AI zeigt uns Dinge, nach denen wir nie gesucht hätten. 2. AI zerstört alte Reichweiten – und erschafft dafür komplett neue Werbeformen.

Die Gewinner der nächsten Jahre sind nicht diejenigen, die AI einfach “anwenden”, sondern diejenigen, die bereit sind, die unknown unknowns zu erkunden – und die neuen Inventarwelten zu verstehen, bevor alle anderen sie entdecken.

Autor

Ben Galler, Co-Founder & Senior Consultant DACHREPUBLIC, Mitglied der IAB-Arbeitsgruppe Programmatic